U-Verlagerungen

 

Mit der zunehmenden Luftüberlegenheit der Alliierten nahmen seit etwa 1942 die Bombenangriffe auf Deutschland und damit die Gefährdung kriegswichtiger Produktionsstätten drastisch zu. Hierbei wurden neben eindeutig militärischen Zielen bald auch systematisch Zivilziele und für den Zivilbedarf produzierende Betriebe angegriffen. Die hierbei erzielten Schäden resultierten dabei in empfindlichen Produktionsminderungen, die bis hin zu einem totalen Produktionsausfall führten.

Derartige Produktionsausfälle wiederum führten zu erheblichen Materialproblemen an der Front, so dass die Aufrechterhaltung des Güternachschubes aus dem Kernreich an die Fronten zu einer mehr und mehr wichtigen Aufgabe wurde. Da die Rückeroberung der Luftherrschaft seit der Aufgabe des Projektes SEELÖWE (die geplante, jedoch nie realisierte Invasion der faschistischen Wehrmacht in England) nicht mehr machbar erschien, wurden neue Konzepte zur Tarnung und zum Schutz kriegswichtiger Betriebe entwickelt. Hierzu zählte neben dem Bau großvolumiger Bunkerbauten wie zum Beispiel den bekannten U-Bootbunkern an der Küste und den weniger bekannten, mehrstöckigen Bunkerhallen des Types "WEINGUT" im Raum Augsburg insbesondere die Untertageverlagerung der Rüstungsproduktion.

Seit Mitte 1943 wurde mit der Einrichtung derartiger Untertagefabriken begonnen. Neben dem Ausbau vorhandener unterirdischer Räume wie Höhlen, Bergwerken, Kellern, Kasematten und Tunnelanlagen wurde dabei auch eine Vielzahl gänzlich neuer Anlagen geplant und teilweise auch realisiert.
Die Verteilung der Anlagen erfolgte dabei relativ regellos dezentral im gesamten deutschen Reichsgebiet, wobei allerdings eine Konzentration dieser Anlagen in bestimmten Gebieten wie zum Beispiel in Südniedersachsen, Thüringen oder Österreich zu erkennen ist.
Genauere Informationen über Lage, Ausmaß und Bauzustand der einzelnen Anlagen waren nach Kriegsende und sind teilweise auch noch heute schwer verfügbar und nur durch aufwändige Recherchen nachweisbar. Hierzu trägt zum einen der Umstand bei, das sämtliche Untertageverlagerungen aus naheliegenden Gründen als geheim eingestuft wurden. Zum anderen besagt aber selbst ein aufgefundener Bauplan noch nicht, dass dieser auch so realisiert wurde.

Wegen des stark beschleunigten Baufortschrittes fanden häufig baubegleitende Planungen statt, die sich im Ausführungsdetail stark von den ursprünglichen Plänen unterscheiden können. Entsprechend der Dringlichkeit einzelner Anlagen und den nur begrenzt verfügbaren Material- und Arbeitskraftkapazitäten konnten andere Projekte auch zurückgestellt werden und wurden dann durch das für die Nationalsozialisten überraschend schnelle Kriegsende niemals fertiggestellt. Es bleibt daher festzuhalten, dass eine Reihe von Bauvorhaben nie über die reine Planung hinaus kamen, während andere Anlagen im Rohbau durchaus zügig fertiggestellt wurden.
Der gesamte Komplex der Untertageverlagerung ist daher bis heute nur ansatzweise erforscht worden und zweifellos sind auf diesem Gebiet noch zahlreiche interessante oder vielleicht sogar spektakuläre "Wiederentdeckungen" zu erwarten. Immerhin hat es in den letzten Jahren eine Reihe von Ansätzen gegeben, die in den Bundesarchiven eingelagerten Archivalien zu sichten und hieraus erste Übersichten zum Thema Untertageverlagerungen zu erarbeiten.

Zu nennen ist hier insbesondere das Werk von WICHERT (1994)
"Decknamenverzeichnis deutscher unterirdischer Bauten des Zweiten Weltkrieges", das trotz seines vorläufigen Charakters eine äußerst wertvolle Fundgrube für diese Thematik darstellt.
Bei den seit April 1944 vergebenen Decknamen wurde dabei das folgende Schema für die Bauvorhaben der Untertageverlagerung verwendet :

— Für bestehende Schachtanlagen (= in Betrieb stehende Bergwerke) wurden als Decknamen Tiernamen verwendet, so zum Beispiel GAZELLE für das Kaliwerk Walbeck–Buchberg bei Helmstedt oder ELCH für das Eisenerzbergwerk Gustedt bei Salzgitter.

— Für bestehende Stollenanlagen (= meist ebenfalls Bergwerke) wurden Fischnamen verwendet, zum Beispiel HECHT I – VI für die Asphaltkalkgruben bei Eschershausen / Hils, die für das GEILENBERG-Jägerprogramm genutzt wurden oder STÖR für die Sandsteinstollen am Jakobsberg an der Porta Westfalica, in der die Firma Phillips Röhrenfertigung betrieb.

— Für die Umnutzung bestehender Strassen- und Eisenbahntunnel wurden Vogelnamen verwendet.
Beispiel für eine solche Anlage ist das – allerdings im Planungsstadium verbliebene Projekt "KUCKUCK II" im Walkenried-Ellricher Eisenbahntunnel, in dem Braunkohlenteer in Schweröl umgewandelt werden sollte.

— Für bestehende Festungsanlagen und Bierkeller wurden als Tarnnamen Begriffe aus dem Pflanzenbereich wie Baumnamen, Strauchnamen und Blumennamen verwendet. Auch Mädchennamen wie MARIANNE und KÄTHE wurden hierfür mitunter vergeben.

— Für natürliche Höhlen wurden als Decknamen Begriffe aus dem Münzwesen verwendet.
Ein Beispiel hierfür ist die Heimkehle bei Uftrungen in Thüringen, in der unter dem Decknamen HELLER die Junkerswerke auf 6100 qm Flugzeugfahrwerkbau betrieben. Die Heimkehle ist eines der wenigen Höhlenprojekte, die realisiert wurden. Bei der auf niedersächsischem Gebiet am Südharzrand liegenden Jettenhöhle bei Osterode-Düna mit dem Decknamen ÖR und der Einhornhöhle bei Scharzfeld mit unbekanntem Decknamen blieben die Planungen dagegen in den Anfängen stecken.

— Schließlich gab es eine ganze Reihe von komplett neu erstellten Untertageanlagen zur Aufnahme von Produktionsstätten, die in der Regel mit Tarnbegriffen aus der Geologie und Mineralogie, also mit Gesteins- und Mineralnamen bezeichnet wurden. Hier scheinen die meisten Anlagen mindestens in Ansätzen realisiert worden zu sein, wobei manche der Projekte trotz des oft gewaltigen Bauvolumens gegen Kriegsende praktisch betriebsbereit waren. Hierzu zählt das Bauvorhaben MALACHIT in den Thekenbergen bei Halberstadt mit etwa 17 Kilometer Stollenlänge und 60.000 qm Nutzfläche oder die ebenfalls weitgehend fertiggestellte Anlage GLASKOPF im Windmühlenberg / Mahner Berg bei Salzgitter-Bad.

— Endlich sind der Vollständigkeit noch neu erbaute Betonbunker zu nennen, die entweder mit Männernamen oder aber wie die Großbunker in Bayern mit eigenständigen Namen (WEINGUT I und II etc.) bezeichnet wurden.

Neben diesem generellen Namensvergabeschema gab es jedoch noch weitere Decknamen wie die S(onderbau)maßnahmen, zu denen Führerbunker, Heeresleitstände und U-Bootbunker zählten oder auch die untertägigen Hydrieranlagen, die trotz ihres Neubaucharakters als DACHS I – IX bezeichnet wurden.
Die Untertage-Baumaßnahmen selbst wurden im allgemeinen durch zivile Ingenieurbüros geplant und durch private oder staatseigene Baufirmen durchgeführt. Hierbei ist insbesondere die OT = Organisation TODT zu nennen, die bis in die letzten Kriegswochen hinein eine fast schon unglaublich leistungsfähige Bauorganisation war und blieb. Die hierbei erzielten Baugeschwindigkeiten waren trotz Materialengpässen im allgemeinen sehr hoch, was nicht zuletzt auch an der rücksichtslosen Ausnutzung des eingesetzten "Menschenmateriales" lag. Neben der Organisation TODT traten jedoch auch andere reichseigene Baufirmen auf, so zum Beispiel verschiedene Unterorganisationen der SS.

Nach Erstellung einer Untertageanlage im Rohbau wurde diese einer oder mehreren Rüstungsgüter produzierenden Firmen angeboten und mit einem Sperrvermerk versehen. Die betreffende Firma hatte dann 4 – 6 Wochen Zeit, die Anlage zu bewerten und weitere Ausbaumaßnahmen zu veranlassen, beziehungsweise ihre Ablehnung zu begründen. Wie bereits weiter oben gesagt, stellt Südniedersachsen einen Raum dar, in dem besonders viele Untertageverlagerungen stattfanden, bzw. stattfinden sollten. Dies mag zum einen an der großen Anzahl von Kaliwerken in diesem Raum liegen, die mit ihren großen und trockenen Abbauräumen grundsätzlich gut zu Lager- und Produktionszwecken geeignet schienen. Aber auch andere Bergwerke wurden hier zur Produktion ausgebaut, beziehungsweise neue Anlagen geplant und – zumindestens teilweise – auch erbaut.
Da sämtliche dieser Anlagen einer strengen Geheimhaltung unterlagen, wurden Informationen über diese Anlagen nur in wenigen Exemplaren angefertigt und weitergegeben. Ein entsprechender "Grundsätzlicher Befehl von Hitler" vom 11. Januar 1940, wiedergegeben in WICHERT (1994) liest sich hierzu wie folgt :
"Keine Dienststelle und kein Offizier dürfen von einer geheim zu haltenden Sache mehr erfahren als für die Durchführung ihrer Aufgabe unbedingt erforderlich ist."

Folglich wurden Verzeichnisse der Decknamen und der hierzu gehörenden Objekte nur in sehr kleinen Stückzahlen erstellt, die auch nur geringe Verbreitung fanden. Von diesen sind zweifellos die meisten noch vor Kriegsende vernichtet wurden. Glücklicherweise haben sich aber doch einige umfangreichere Listen erhalten, die in den Bundesarchiven in Koblenz, Berlin-Lichterfelde und in Freiburg archiviert sind.
Hierbei muß zwischen den eigentlichen Decknamenlisten (Quelle : BA Koblenz R7/1192 und BA R3/443) unterschieden werden, in denen im wesentlichen nur der Tarnname selbst sowie die Örtlichkeit wiedergegeben werden und einem erhalten gebliebenen ausführlicheren 57-seitigen Verzeichnis des Rüstungsamtes über Projekte der Untertageverlagerung (= Quelle : BA R3 / 3010 ), das zwar nur eine Auswahl dieser Anlagen umfasst, jedoch wesentlich detailliertere Informationen über diese enthält.

Bei der Durchsicht der "Decknamenlisten im engeren Sinne" vom 6. Juli 1944 und vom 15. Januar 1945 fällt auf, das zahlreiche der genannten Anlagen bisher nicht aufgefunden werden konnten, so unter anderem die Anlage Schiefer / B1 bei Stadtoldendorf oder Phyllit in Marienhagen. Tatsächlich kamen einige der Anlagen aus verschiedenen Gründen nie über das Planungsstadium hinweg, so zum Beispiel die Anlage Phyllit.
Umgekehrt gibt es aber auch existierende UT–Anlagen, die in keiner der bekannten Listen erscheinen, so z.B. die Anlage LACK II in Salzgitter-Gebhardshagen.
Trotzdem zeigt die ausführlichere Liste des Rüstungsamtes in ihren Angaben eine im allgemeinen hohe Verlässlichkeit.

Eine Bewertung der Effizienz der realisierten Untertageanlagen kann dabei nur zum Schluß kommen, dass der mit einem immensen Material- und Geldeinsatz und dem grob menschenverachtenden Masseneinsatz von (Zwangs)arbeitskräften forcierte Bau großvolumiger bombensicherer untertägiger Produktionsstätten selbst unter Kriegsbedingungen letzthin wenig effizient war. Zwar wurden die Anlagen selbst tatsächlich kaum bombardiert, jedoch waren fast sämtliche Anlagen durch die Anbindung an Bahnstrecken und deren planmässiger Bombardierung hinsichtlich Rohstoffversorgung und Abtransport der fertigen Produkte sehr verletzbar.

Als weit eleganter dürfen daher die noch in den letzten Kriegsmonaten erstellten "Waldhüttenlager" gelten, bei denen in schlecht einsehbaren Waldungen dezentrale Produktionsstätten in barackenartigen Hütten geschaffen wurden. Diese Produktionsstätten waren weitaus schneller zu errichten, deutlich billiger im Bau und durch die Lage / Tarnung in dichten Waldbeständen ähnlich bombensicher wie unterirdische Anlagen.